Tyrannei der Geschwindigkeit [Rezension]

3-89657-151-6Von Peter Streiff

Die »Tunnelblick«- Redaktion, eine der aktiven Gruppierungen in der Stuttgarter Bewegung, ließ ihren Blick sowohl geografisch als auch historisch einmal etwas weiter schweifen und entdeckte einen zeitlos aktuellen Text, der im Widerstand gegen ein Schnellbahnprojekt entstand. Das vor 25 Jahren geschriebene politische Pamphlet liefert gut durchdachte und grundsätzliche Argumente, die auch heute gegen unnütze und unsinnige Großprojekte gültig sind.

Damals plante die französische Eisenbahngesellschaft SNCF eine Erweiterung ihres  Hochgeschwindigkeitsbahnnetzes bis zum Mittelmeer, um die Reisezeit von Paris nach Marseille auf drei Stunden zu verkürzen. Gegen die neue Bahnstrecke formierte sich eine Protestbewegung von Bauern, Winzern und Anwohnern. Sie blockierten Gleise und besetzten einen Eisenbahnviadukt, um die Verkehrsplaner von ihrem Projekt abzubringen.
Doch der Protest flaute ab und die Bahnlinie wurde leicht verändert gebaut. Die damalige Gegenbewegung ist heute vergessen. Jedoch ist das in diesem Zusammenhang entstandene Pamphlet der »Situationisten« überliefert, das sich gegen die »Tyrannei der Geschwindigkeit« richtet. Bereits in den 1950er Jahren hatten die Situationisten damit begonnen, die alte Idee einer Gesellschaft ohne jede Herrschaft und Ausbeutung erneut auf die Tagesordnung zu setzen.
Schonungslos und hellsichtig analysieren die AutorInnen in ihrer Flugschrift den modernen Beschleunigungswahn, der heute alle Lebensbereiche erfasst hat: Die »sogenannte Staatsmacht« habe ihre Entscheidungshoheit verloren, denn ihre, »in enger Symbiose mit der Hoch- und Tiefbaumafia geplanten Bauvorhaben« verkaufe sie der öffentlichen Meinung »als pharaonenhaft anmutende Projekte, als handle es sich dabei um Antworten auf tatsächlich vorhandene gesellschaftliche Bedürfnisse«. Ihre Botschaft: Es reiche nicht, gegen einzelne Großprojekte oder andere Auswüchse dieses Prinzips zu protestieren. Zurückzuweisen sei ein technischer Fortschritt, der verspricht, die Menschen zu befreien, sie aber immer tiefer in neue Abhängigkeiten verstricke. Stattdessen sollte »die Frage nach dem guten Leben« gestellt werden und der Kampf gegen den »Starrsinn der Verfügenden« müsse zu »den vordringlichsten Maßnahmen öffentlicher Gesundheitspflege« zählen.

Angesichts von Alltagshetze, Mobilitätszwang, Verkehrschaos und Großprojekten wie BER oder Stuttgart 21 ist dieser Text ein Vierteljahrhundert nach seiner Entstehung aktueller denn je. Die vorliegende Neuübersetzung macht ihn nun erstmals einem breiten Publikum in deutscher Sprache zugänglich.

Edition Tunnelblick: Tyrannei der Geschwindigkeit. Schmetterling Verlag, Stuttgart 2015, 50 Seiten, 7 EUR, ISBN 3-89657-151-6

Diese Rezension erschien zuerst in CONTRASTE, Monatszeitung für Selbstorganisation, Nr. 369 (Juni 2015). CONTRASTE berichtet regelmäßig aus dem Land der gelebten Utopien: über Arbeiten ohne ChefIn für ein selbstbestimmtes Leben, alternatives Wirtschaften gegen Ausbeutung von Menschen und Natur, über Neugründungen von Projekten, Kultur von “unten” und viele andere selbstorganisierte und selbstverwaltete Zusammenhänge.

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