Berliner Manifest zur Grundversorgung in der Netzgesellschaft

05.09.2008, www.heise.de
Gewerkschaftler, Forscher, zivilgesellschaftliche Organisationen wie der Chaos Computer Club (CCC), EU-Abgeordnete sowie der Städte- und Gemeindebund haben sich in einer Charta für einen offenen Zugang zu öffentlichen Netzinfrastrukturen und gegen Privatisierungstendenzen im E-Government ausgesprochen. „Nicht am Internet teilhaben zu können, bedeutet den Ausschluss aus weiten Teilen des gesellschaftlichen und familiären Lebens, Ausschluss von Bildungs- und Informationsmöglichkeiten, von demokratischer Teilhabe“, heißt es im „Berliner Manifest[1] zur Daseinsvorsorge in der Informationsgesellschaft“, dessen Verabschiedung am Ende der Debatten auf einer Tagung von ver.di[2] am Freitag stand. Jeder Bürger benötige einen Zugang zum Internet mit ausreichender Bandbreite. Es gelte, den Begriff der Grundversorgung in diese Richtung zu definieren.

In zehn Punkten macht sich der Katalog für einen freien Austausch von Wissen stark. Eine kalkulierte Verknappung der Informationsvielfalt, die Einführung technischer Barrieren und die schrittweise Privatisierung von öffentlichen Wissensbeständen sei ein Vergehen an der Allgemeinheit. Gemeinschaftsgüter müssten durch offene Nutzungslizenzen wie Creative Commons[3] und die 4 General Public License[4] (GPL) vor „privater Vereinnahmung“ geschützt werden. Was mit öffentlichen Geldern oder Zuschüssen finanziert wurde, sei der Öffentlichkeit gemäß dem Open-Access-Prinzip[5] frei zugänglich zu machen und sollte digital öffentlich und weitgehend kostenfrei zur Verfügung gestellt werden.

Man könne in diesem Zusammenhang die Rolle der öffentlichen Bibliotheken nicht überbetonen, erläuterte der Verwaltungsrechtler Klaus Lenk. Der Zugang zu Informationen müsse neu geregelt werden und die Gesellschaft dürfe diese Aufgabe „nicht Google überlassen“. Sie müsse vielmehr aktiv entscheiden, welche Strukturen „eines öffentlichen Grüns in die Informationsversorgung einbezogen werden“. Sonst verkomme das Internet zu einer „kommerziellen Wüste“.

Entgegen dem Trend zur Privatisierung macht sich die Deklaration für die Stärkung der öffentlichen Steuerungsfähigkeit etwa bei der Umsetzung der EU-Dienstleistungsrichtlinie[6] stark. Die öffentliche Hand müsse in der Informationsgesellschaft weiterhin die Grundversorgung mit öffentlichen Leistungen gewährleisten können. Durch Auslagerungen oder „öffentlich-private Partnerschaften“ (Public Private Partnerships) würden Selbstverwaltung und Steuerungsfähigkeit wegen vorgeblicher „Effizienzsteigerungen“ oder „Kostenreduktionen“ oft mit unvertretbaren Folgen für die Öffentlichkeit an private Unternehmen abgetreten. Der Staat müsse im IT-Bereich in der Lage sein, anstehende Einkäufe und Kosten realistisch einzuschätzen, um Investitionsruinen zu vermeiden und, ­ sowie erforderlich,­ Leistungen selbst zu erbringen. Dazu werde ausreichendes Fachpersonal benötigt. Die öffentliche Planung von Netzinfrastrukturen dürfe nicht „IT-Lobbyisten“ überlassen werden.

Achim Meerkamp, Mitglied im ver.di-Bundesvorstand, verwies auf Negativbeispiele wie den Verkauf[7] einer Mehrheit am Stadtportal „hamburg.de“ an Axel Springer. Ein privater Medienkonzern könne so die „offiziöse Domain“ für Werbekunden interessant machen. Der Bürger lande in einem Gemischtwarenladen mit diversen Popups mit nur kleinen Links zu seinen öffentlichen Einrichtungen. Aber etwa auch die Bertelsmann-Tochter Arvato sehe im Erwerb öffentlicher Infrastrukturen ein großes Geschäftsfeld[8], wie ihre Aktivitäten im englischen Kreis East Riding mit dem Betrieb eines Bürgerbüros[9] oder in Würzburg mit dem Aufbau eines Online-Portals[10] für den Behördenverkehr beweisen würden.

Bei derlei Verträgen könnten viele persönliche Informationen von der Auszahlung von Gehältern über den Einzug von Steuern bis zu Gesundheitsprüfungen in womöglich falsche Hände geraten, monierte Werner Rügemer, Autor eines Buchs über „Heuschrecken“ im öffentlichen Raum. Man müsse bedenken, was Arvato nebst Unterfirmen wie Infoscore „noch alles so macht“. Das Spektrum reiche vom Adresshandel über die Datenakquise durch Gewinnspiele bis zur Betreuung von Kundenprogrammen der Lufthansa und der Deutschen Bahn. Dass das Wort „Datenschutz“ in einem Entwurf des Vertrags mit Würzburg gar nicht aufgetaucht sei, könne da „kein Vertrauen“ schaffen.

Laut Rügemer geht mit Public Private Partnerships die Steuerungsfähigkeit von Kommunen und staatlichen Einrichtungen „völlig verloren“. Dies sei bei den strafbewehrten Geheimhaltungsklauseln[11] im Vertrag mit Toll Collect deutlich geworden. Der Bundestag habe hier ein Gesetz zur Lkw-Maut beschlossen, dessen praktische Umsetzung er im Detail überhaupt nicht kenne. Eine echte parlamentarische Kontrolle sei so unmöglich. Damit verbunden sei im Fall Toll Collect die „Privatisierung der Justiz“. So gelte die standardmäßige Vereinbarung, dass die Parteien im bereits eingetretenen Streitfall[12] über Milliardenzahlungen nicht vor ein ordentliches Gericht, sondern eine Schiedsinstanz gehen. Auch hier solle vermieden werden, „dass Geschäftsgeheimnisse ans Tageslicht kommen“.

Weitere Forderungen des Manifest beziehen sich auf den Einsatz offener Standards im E-Government, die bessere Absicherung kritischer Infrastrukturen und die Stärkung des Datenschutzes[13] etwa durch Datensparsamkeit sowie den Verzicht auf die Vorratsspeicherung von Telekommunikationsdaten oder auf heimliche Online-Durchsuchungen. Generell müssten Prinzipien der E-Demokratie auch für die Erbringer „Öffentlicher Dienste 2.0“ gelten. Daher müssten Möglichkeiten zur Mitbestimmung und Koalitionsfreiheit vergrößert und ans Internet angepasst werden. (Stefan Krempl)

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