kurz erklaert VIII: Gerechtigkeit

In der Hartz-Zeit steht Die Linke. selbstverständlich für Verteilungsgerechtigkeit auch als Grundlage von Akzeptanz, Vielfalt und Hegemonie. Hier haben sie einen starken Ruf. Dieses erste Element, so notwendig es ist und so richtig es das sozialdemokratische Anliegen aufnimmt, das von der SPD liegen gelassen worden ist, ist aber nicht ausreichend. Ein neues linkes Projekt muss den Beweis erbringen, dass es mehr ist als eine zur Partei gewordene Abwehrschlacht.

Das zweite Element ist Anerkennungsgerechtigkeit. Zum Teil handelt es sich hier um ein grün-alternatives Anliegen, das von den Grünen liegen gelassen worden ist, wenn auch nicht so vollständig wie die Verteilungsgerechtigkeit von der SPD. Anerkennungsgerechtigkeit bedeutet, die Vielzahl der Lebenslagen, Lebensmodelle und individuellen Situationen und Orientierungen als gleichberechtigte Ausdrucksformen gesellschaftlicher Normalität anzuerkennen und sie von der Unterdrückung und Ausgrenzung durch die rechtlichen, ökonomischen und Alltagspraxen der Abwertung, Diskriminierung und Ungleichheit zu befreien. Die Linke muss – allgemein formuliert – für Anerkennung als Recht auf gleiche Teilhabe an sozialer Interaktion stehen und die politische Kraft sein, die sensibel ist für jede Form von Abwertung der Menschen und dagegen Front macht.

Das dritte Element eines erweiterten und erneuerten linken Gerechtigkeits- und Gleichheitsbegriffs ist Aushandlungsgerechtigkeit. Zwischen den Individuen und sozialen Gruppen, welche die Basis eines erneuerten linken Projekts ausmachen müssen, gibt es nicht nur gleichgerichtete Interessen, sondern auch Konkurrenz – Beziehungsstrukturen, wo der eine gewinnt, was der andere verliert. Das gilt zwischen dem polnischen Wanderhandwerker in Deutschland und seinem Kollegen hiesiger Nationalität ebenso wie zwischen dem immer noch vorherrschenden Allein- oder Hauptverdiener und seiner (meist) Frau, zwischen Mehrkindfamilien und Alleinerziehenden, zwischen Flüchtlingen und von Verdrängung am Arbeitsmarkt Bedrohten, zwischen der Erhaltung eines deutschen Wohlfahrtsniveaus und den niedergehaltenen Ansprüchen des Rests der Welt. Hier gibt es oft keine glatten Lösungen, hier schafft auch »soziale Sicherung plus Beschäftigungspolitik« keine heile Welt ohne Konflikte; hier ist der Ort für lange, schwierige Aushandlungsprozesse, Übergänge und Ausgleiche, in denen die Linke eine moderierende und kreative Rolle spielen, aber keine Stellvertreterpolitik beanspruchen kann.

Hieran schließt sich das vierte notwendige Element eines erneuerten linken Gerechtigkeits- und Gleichheitsbegriffs an: Verhandlungsmacht und gesellschaftliche Verhandlungsräume, also: Selbstbestimmungsgerechtigkeit. Gerechtigkeit und Gleichheit sind nichts mehr, was der Staat, so prima er auch regiert sein möge, direkt für alle schaffen kann. Stattdessen muss er die Räume ermöglichen, in denen sie verhandelt und erstritten werden, und diejenigen solidarisch und machtpolitisch unterstützen, deren Verhandlungsmacht bislang systematisch jeweils zu gering war. Mitbestimmung, z. B., ist kein Ersatz für fehlende Vergesellschaftung; sie ist Vergesellschaftung, die ihre vollständige Einlösung findet in Strukturen der gleichberechtigten Selbstverwaltung und der Verlagerung von Entscheidungsprozessen weg von Staat und »Privatbesitzern« und hinein in die reale Gesellschaft. Damit muss eine linke Gleichheitspolitik (Engler) die Konsequenz aus der Tatsache ziehen, dass Abwertungspraktiken und -kulturen, Ungleichheit und Praxen der Ungerechtigkeit allesamt eine Beziehung und ein Gefälle der Macht oder Herrschaft konstruieren oder reproduzieren. Dies ist in aller Regel das ungenannt-verborgene einfache Geheimnis der bürgerlichen und sozialdemokratischen Rhetorik der Gerechtigkeit: sie verheimlichen und entnennen dabei die immer eingeschlossene politische Dimension von Macht und Herrschaft.

Will die Linke daher ihren Gerechtigkeitsbegriff und ihre Gerechtigkeitspolitik als ein Merkmal ihrer selbst (Trademark) schärfen, das einen bestandsfähigen, sichtbaren, klaren und daher überzeugenden Unterschied zu anderen politischen Formationen macht, dann muss sie das Kerngeschäft der Verteilungsgerechtigkeit beherrschen, die Alltagssensibilität des Kampfes gegen Abwertung reklamieren wie praktizieren und beides verbinden mit einer vitalen, offenen und risikofreudigen Machtkritik, also bereits politikmethodisch das Soziale und das Politische im machtkritischen Sinne gleichheits- und demokratiepolitisch im Sinne der Aushandlungs- und Selbstbestimmungsrechtigkeit miteinander verknüpfen. Sie muss so auch in der Substanz das Soziale als Kern der allgemeinen Würde des Menschen (Selbstbestimmung) aufgreifen.

Nach: Rainer Rilling, Christoph Spehr interner Link folgtDie Wahl 2006, die Linke und der jähe Bedarf an Gespenstern… in: Standpunkte 6/2005
sowie
diess., interner Link folgtGuten Morgen, Gespenst! Annäherungen an das jähe Erscheinen eines Parteiprojekts, in: Standpunkte 8/2005

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